Die Polyvagal-Theorie im Pferdetraining

Neuer Look fürs Nervenkostüm

Das autonome Nervensystem und die Polyvagal-Theorie im Pferdetraining

Da gibt es Pferde, die strahlen in Bewegung, dynamisch traben sie durchs Viereck, galoppieren kraftvoll oder glänzen in einer agilen Piaffe. Andererseits gibt es auch Pferde, die hampeln wie leblose Marionetten, wirken ferngesteuert, matt und blutleer. Woher kommt einerseits diese Aktivität, die Power, die Freude an der Bewegung? Was vernichtet andererseits die Energie, macht schwerfällig und phlegmatisch? Und welche Rolle spielen Stress und Überforderung?

Möglicherweise gibt das Autonome Nervensystem wertvolle Hinweise darauf, die gerade in der Pferdewelt noch viel zu wenig beachtet werden. Alle Säugetiere - also sowohl wir Menschen als auch unsere Pferde - haben ein Autonomes Nervensystem. Als Teil des zentralen Nervensystems steuert es alle Prozesse, die nicht dem Willen unterliegen, wie z.B. Herzschlag, Atmung, Verdauung. So bleiben wir am Leben, ohne jegliches bewusstes Zutun. Darum der Name: Autonomes Nervensystem, kurz ANS.

Der alte Hut: ANS mit zwei Zweigen

In der herkömmlichen Wissenschaft, Lehre und Literatur wird das ANS als zweigeteilt beschrieben. Die beiden Zweige, Sympathikus und Parasympathikus, sind zwei Gegenspieler von denen jeweils einer arbeitet und der andere inaktiv ist. Man spricht bei der Erregung des Sympathikus von dem Gaspedal des Körpers und beim Ruhezustand des Parasympathikus von der Bremse.

So ist der Sympathische Zweig des Nervensystems (SNS) für alle Prozesse zuständig, die den Körper aktivieren und dabei Energie verbrauchen. Auch wenn Gefahr oder Stress aufkommen, steuert er die Aktivierung bis hin zu Kampf- und Fluchtverhalten. Der Parasympathische Zweig des Nervensystems (PNS) ist sein Gegenspieler und sorgt für alle Funktionen, die der Beruhigung und Regeneration dienen. Dazu gehört das Entspannen der Muskulatur sowie Verdauung und Erholung.

Man kann diese beiden Zweige des eigenen ANS selbst erkunden: Nimmt man einem tiefen Atemzug, wird das SNS aktiviert und wir sind bereit loszuspurten. Das langsame Ausatmen hingegen regt das PNS an und wir entspannen. Durch gezieltes Atmen können wir Menschen unser ANS beeinflussen. Auch bei Pferden beobachtet man das tiefe Luftholen zur Aktivierung, z. B. beim Angaloppieren oder das Abschnauben als Zeichen der Entspannung. Herkömmlicherweise geht man davon aus, dass das autonome Nervensystem jeweils im Moment reagiert und seinen Zustand entsprechend kalibriert. Eine gebräuchliche Interpretation dieses Modells ist: Man kann nicht gleichzeitig gestresst und entspannt sein. Darüber hinaus etablierte sich die Annahme, dass ein bisschen Stress gut ist, aber zuviel Stress ist ungesund. Doch wieviel ist zuviel? Das lässt sich schwer sagen, man nimmt an, beide Systeme müssen sich abwechseln, um in Balance zu sein.

Dieses zweigeteilte Modell ist verbreitet, auch in der Pferdewelt. Es wird im Pferdesport von Trainern, Reitlehrern, Therapeuten, Sportpsychologen und Verhaltensforschern zugrunde gelegt. Damit wird argumentiert, um zu erklären, dass man das Pferd bloß keinem Stress aussetzen darf und es vor, während und nach einer aktivierenden Einheit unbedingt Entspannung braucht. Auch zur physiologischen Argumentation für die Dehnungshaltung und das Vorwärts-Abwärts wird dieses Modell nach wie vor herangezogen. Doch es ist längst überholt.

Der neue Look: ANS mit drei Zweigen

Bereits seit den 1990er Jahren hat der Neurowissenschaftler Dr. Stephen Porges bahnbrechende Forschungen zum autonomen Nervensystem bei Säugetieren durchgeführt. Seine Arbeit umfasste den Hauptakteur des PNS, den Vagusnerv. Er verläuft vom Hirnstamm durch Hals und Brustraum und führt hinunter zu den inneren Organen. Maßgebend für Porges‘ Forschung war, dass dieser Nerv selbst wiederum zwei Zweige hat. Damit definierte er für das ANS insgesamt drei Zweige: den aktivierenden Sympathikus und die beiden deaktivierenden Zweige des Parasympathikus, die er im dorsalen und ventralen Verlauf des Vagusnervs unterscheidet. Aufgrund dieser Mehrfachverzweigung kam es zu dem Namen „Polyvagal-Theorie“.

Porges geht davon aus, dass das Autonome Nervensystem diese insgesamt drei Zweige als Reaktionspfade nutzt, um drei grundlegende physiologische Zustände zu beschreiben. Dabei ist die Sicherheit der Situation und der Umgebung ausschlaggebend dafür, welcher Pfad beschritten wird.

Die Polyvagal-Theorie

Zugrunde liegt die Annahme, dass Säugetiere über die Fähigkeit verfügen, Sicherheit oder Gefahr zu erkennen. Porges bezeichnet dies als Neurozeption. Es ist ein Vorgang, in dem das ANS sowohl Signale aus der Umgebung als auch aus dem Körper (z.B. das sogenannte Bauchgefühl) verarbeitet, auf Erfahrungen zurückgreift, aber auch auf Artgenossen reagiert. So scannen Pferde permanent die Umgebung auf Informationen. Abhängig davon, welche Hinweise aufgenommen werden, kommt es zu entsprechenden Reaktionen.

Porges schreibt: „Bei Säugetieren entwickelte sich ein hierarchisch organisiertes, regulierend wirkendes Streßreaktionssystem, das nicht nur auf dem wohlbekannt sympatho-adrenalen Aktivierungssystem und dem parasympathischen inhibitorischen Vagussystem beruht. Vielmehr werden diese Systeme außerdem durch den myelinisierten Vagus und die den Gesichtsausdruck steuernden Kranialnerven beeinflusst, die zusammen das System Soziales Engagement bilden. Die Entwicklung der Selbstregulation beginnt als phylogenetisch mit der Herausbildung eines primitiven behavioralen Hemmungssystems, sie setzt sich in der Entwicklung eines Kampf-Flucht-Systems fort, und sie gipfelt beim Menschen (und bei anderen hoch entwickelten Säugetieren, Anm. d. Autors:) in der Entstehung eines komplexen (…) Systems Soziales Engagement.“

Die drei Pfade und ihre Reaktionsmuster sind

Grün: soziale Interaktion (Systems Soziales Engagement)

Eine Veränderung wird wahrgenommen und auch dem Umfeld signalisiert. Hilfe oder Unterstützung werden durch soziale Interaktion eingefordert und man reguliert sich gegenseitig durch Nähe oder auch Beschwichtigung. Die Herzfrequenz ist niedrig, die Atmung normal. Der Speichelfluss ist stimuliert und der Muskeltonus ist schwach. Die Pferde interagieren ruhig, grasen, betreiben Fellpflege. Hier ist der Ventrale Vaguskomplex (VVK) aktiv und wirkt wie eine sanfte Bremse auf die anderen beiden Zweige des ANS.

Gelb: Mobilisierung

Diese Reaktion bedeutet Aktivierung. Das SNS springt an und bringt Erregung. Bei den Pferden setzt Bewegung ein, sie laufen, springen, wilderes Spiel findet statt. Die Schritte werden ausholender und aktiver. Herzschlag und Muskeltonus sind erhöht, aber ebenso die Schmerztoleranz. Die Atmung wird tiefer. Je nach Intensität und Interpretation der wahrgenommenen Reize reicht dieses Verhalten von Aktivierung und Bewegungsfreude bis hin zu Flucht oder Kampf. Hier ist das Sympathische Nervensystem aktiv und wirkt wie ein Gaspedal.

Rot: Immobilität

Nimmt die Gefahr weiter zu, sind Flucht oder Kampf aussichtslos. Darum werden alle Aktivitäten heruntergefahren. Die Immobilisation wird eingeleitet. Das Herz schlägt langsamer, die Atmung ist flach und der Muskeltonus niedrig. Um Energie zu sparen oder keinen Schmerz mehr zu empfinden, steigert sich diese Reaktion bis zum Totstellen. Das Pferd erscheint matt, leblos, es macht sich fest oder steht wie versteinert. Hier dominiert der Dorsale Vaguskomplex (DVK). Das System ist erstarrt oder kollabiert. Das ist die Notbremse.

Instinktiv werden diese Reaktionen in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert, die ihrer evolutionären Entwicklung im Gehirn entspricht. So reagieren Pferde, wie alle Säugetiere auf einen äußeren Reiz, indem sie zunächst ihre Strategien der sozialen Interaktion anwenden. Sie orientieren sich am Reiter oder an der Herde, suchen Kontakt, Hilfe, Unterstützung und kommunizieren auf ihre Art. Haben sie damit keinen Erfolg oder besteht eine unmittelbare Bedrohung, kommt die evolutionär ältere Reaktion zum Einsatz: Flucht oder Kampf, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Schlägt auch das fehl, folgt die primitivste Reaktion des Totstellens oder der Erstarrung, wie ein Reptil.

Sicherheit oder Gefahr

Idealerweise pendeln Säugetiere zwischen dem grünen und dem gelben Bereich. Man kann sich das ANS vorstellen wie den Kutscher einer Troika. Er hält die Zügel seiner drei Pferde fest in den Händen. Er dirigiert sie ans Ziel und dabei lässt er die Pferde mal schneller, mal langsamer laufen. Mal muss er eines ein bisschen antreiben, mal eines ein wenig bremsen. Aber er behält immer die Kontrolle über ihre Aktivitäten und lässt keinen Zügel während der Fahrt los. Das ANS nutzt, genauso wie der Kutscher, die Zweige des SNS, VVK und DVK zur Steuerung. Dabei sind immer alle aktiv, jeweils mal mehr und mal weniger. Und im Falle des Falles, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, wird die Notbremse gezogen.

Das zentrale Element der Polyvagal-Theorie ist die Wahrnehmung von Sicherheit und Gefahr. So scannen Säugetiere ihre Umgebung permanent ab und mit Hilfe ihrer Neurozeption signalisiert das ANS dann Sicherheit (grün), Belastung und Gefahr (gelb) oder Lebensgefahr (rot). Eigentlich wirken die Zweige des autonomen Nervensystems gleichzeitig – aber jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt. In Sicherheit kann sich das parasympathische System gut regulieren, beide Zweige des PNS arbeiten zusammen. Der VVK dominiert den DVK und drosselt dessen Aktivität, das nennt man „Vagusbremse“. Alles ist im grünen Bereich, wie man so schön sagt. Taucht dann eine Gefahr auf, setzt Angst ein und es folgen defensive Reaktionen, um das Überleben zu sichern. Bei Pferden untereinander kennen wir es als Gruppen- oder Herdendynamik. Ist ein Pferd übererregt, steckt es die anderen an. Im Kontext der Evolution betrachtet, macht das Sinn: signalisiert ein Herdenmitglied Gefahr, wäre es nicht schlau, zu warten, bis jedes einzelne Herdenmitglied die Bedrohung selbst sieht - da könnte es längst zu spät sein. Also sind alle gemeinsam auf der Flucht. Nimmt die Gefahr weiter zu, wird sie zur Lebensgefahr. Das Pferd kann nicht mehr, wird „starr vor Angst“ und ist im sogenannten „roten Bereich“. Jedoch haben Säugetiere auch die Fähigkeit, sich einem niedrigeren Erregungsniveau anzupassen. Jedoch nur wenn sie das andere Individuum als souveräner ansehen, dann können sie sich in dessen „grünen Bereich“ herunterregulieren. Diese Rolle des souveränen Individuums wäre unsere, als Reiter oder Trainer.

Im Pferdetraining geht es nicht darum, Stress durchgehend zu vermeiden. Vielmehr geht es darum die Grenzen auszutesten. Bleibt man nur im grünen Bereich, bleibt man auch in der Komfortzone. Training hingegen findet im gelben Bereich der Aktivierung und Mobilisierung statt – jedoch ohne Angst und Überforderung. Weiterentwicklung ist nur möglich, wenn man sachte an den Grenzen arbeitet, Verspannungen löst, Mobilität erweitert - ohne eine Bedrohung auszulösen. Manche Pferdefreunde interpretieren jedes Anzeichen von Aktivierung als Stress und deuten es als Schmerz, Überforderung oder Verwirrung. Sie raten, all das zu vermeiden und empfehlen die „Herunterregulierung“ in den grünen Bereich. Das ist nicht generell falsch, basiert jedoch auf einem eingeschränkten Verständnis des ANS. Es sollte nicht darum gehen, jede Art von Aktivierung zu vermeiden, da nicht jede Mobilisierung des SNS das Nervensystem schädigt. Die Grenze zwischen Sicherheit und Gefahr ist das Zünglein an der Waage. Verbleibt man durchwegs im grünen Bereich, ignoriert man, dass ein Zuviel an Entspannung auch zu Immobilität und damit in den roten Bereich führen kann. Man kann sich auch zu Tode langweilen – auch als Pferd.

Polyvagal und Vertikal

Durch die Polyvagale Brille betrachtet, ist es beim „Vertikalen Reiten“ so: Man beginnt mit den Flexionen und der Mobilisation. Dadurch wird das Pferd aktiviert, das SNS springt an. Das Pferd setzt seine Schritte, bewegt seinen Körper. Aber es ist dabei nicht angespannt und schon gar nicht verspannt. Es ist dieses feine Spiel von Aktivierung und Entspannung, von SNS und VVK im grünen Bereich. Klar im Kopf und in Verbindung mit dem Reiter sieht es aus wie ein Tanz. Das Pferd spielt mit seiner Mimik, der Speichelfluss ist angeregt, die Bewegungen werden agiler, der Muskeltonus steigt an. Als Beobachter nimmt man ein Strahlen wahr. Alles im Flow. Dann fordert der Reiter ein bisschen mehr, testet die Grenzen aus. Ein bisschen Piaffe hier, ein wenig Passage da, ein fliegender Wechsel, eine Pirouette. Ein bisschen mehr Zügel oder ein bisschen mehr Bein. Das SNS ist im gelben Bereich, das Pferd ist aktiv(iert). Es bewegt sich voller Power, man sieht die Energie förmlich sprühen. Das Pferd brilliert und gibt in jeder Lektion ein bisschen mehr, Entwicklung findet statt. Bildlich gesprochen, ist das Gaspedal durchgedrückt, der Motor läuft auf Hochtouren. Atmung und Herzschlag sind schnell, der Muskeltonus ist hoch.

Dann Stopp. Keinesfalls zu viel. Es ist eine reiterliche Kompetenz, zu wissen, zu fühlen, wo Schluss ist: Dort, wo der gelbe Bereich in den roten übergeht. Man arbeitet keinesfalls so tief im gelben Bereich, dass das Pferd Flucht- oder Kampfreaktionen zeigt und schon gar nichtdarüber hinaus im roten Bereich, den das Pferd als lebensgefährlich betrachtet. Würde man weiterhin fest aufs Gaspedal drücken, wird das ANS die Notbremse ziehen und der DVK übernimmt. Das kann man sich ungefähr so vorstellen, als hätte man gleichzeitig mit voller Wucht auf Gaspedal und Bremse getreten. Der Motor heult auf und stirbt ab. Nichts geht mehr.

Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass kein Reiter sein Pferd in derartig gefühlte Gefahr bringen möchte, dass ihm nur noch Flucht- oder Kampfreaktionen bleiben, geschweige denn in Situationen die das Pferd als lebensbedrohlich empfindet. Trotzdem kann es geschehen; aus Unwissenheit oder Ehrgeiz, aus Versehen oder durch Einflüsse von außen. So kann es passieren, dass ein Pferd dann in diesem Zustand stecken bleibt. Da ist sein SNS möglicherweise so aktiviert, dass es permanent durchgeht oder buckelt. Oder sein DVK kann die Notbremse nicht mehr lösen und das Pferd bleibt immobil, kann die Füße nicht mehr richtig setzten, den Körper nicht mehr richtig bewegen. Das ANS ist kollabiert und das Pferd ist zum Problempferd geworden.

Es ist wichtig, dass Reiter und Pferdetrainer die Reaktionen des Pferdes richtig einschätzen können. Es ist wichtig, dass sie erkennen können, wann sich das Pferd bedroht fühlt. Denn dann kann es nicht sinnvoll interagieren, sondern greift stattdessen auf primitivere Kampf- oder Fluchtverhaltensweisen zurück.

Reiten in Balance

Ich habe Manuel Jorge de Oliveira gefragt, ob das autonome Nervensystem für ihn in der Arbeit mit Pferden eine Rolle spielt. „Die Mobilisierung bewirkt Aktivität“, sagt er sofort, „wohingegen das Reiten im Vorwärts-Abwärts Passivität bewirkt. Dabei ermüdet das Pferd.“ Genau so ist es.

Er wendet dieses Wissen einfach an. Er ist in Verbindung mit jedem Pferd, mit dem er arbeitet. Er nimmt den Zustand des Pferdes wahr und weiß genau, wieviel Aktivierung und wieviel Entspannung es braucht. Mit feinen Justierungen mobilisiert er das Immobile. Mit feiner reiterlicher Einwirkung, wohldosierter Atmung, einem Pfiff oder ein paar Fado-Tönen mildert er die Überaktivierung und lenkt die Bewegungen des Pferdes in geordnete Bahnen. Die Pferde sind mit ihm in Interaktion, sie synchronisieren sich, Balance entsteht. Und dann, nach einer anspruchsvollen Lektion und am Ende der Einheit sagt er: „Let him rest.“ Erlaube dem Pferd sich zu entspannen.

Der beschriebene Reiz-Reaktions-Zyklus des ANS ist Teil seiner täglichen Arbeit. In diesem Zusammenhang empfehle ich diese Kapitel zu lesen: „Die Individualität Ihres Pferdes“ (Vertikal 1, Seite 18 ff.), „When your Horse is in Trouble, give him Freedom!“ (Vertikal 2, Seite 88 ff.) und „Eine falsche Arbeitsmentalität“ (Vertikal 3, Seite 278 ff.)

Auch wenn Manuel Jorge de Oliveira selbst seine Pferde niemals im roten Bereich trainiert, so kennt er diesen doch. „We call it: the horse stuck. It stopped, it can’t move.“ Das Pferd kann sich nicht richtig bewegen, ist immobil, Vor- und Hinterhand scheinen nicht in Verbindung zu sein. Dann sagt er oft: „The horse is like death.“ Das Pferd reagiert nicht mehr und hat (sich) aufgegeben. Wenn er solche Pferde zur Korrektur bekommt, beginnt er bei null: Mit Mobilisierung.

Aus Sicht des Nervensystems ist Mobilisierung etwas Gutes: wohltuend, gesund und zugleich beruhigend. Wenn wir als Reiter dem Pferd Bewegungen abverlangen, die im Rahmen der Sicherheit bleiben, helfen wir ihm, seinen Bewegungsdrang auszuleben, dabei Spannungen wahrzunehmen und abzubauen. Das Pferd wird dann über klare Signale wie Abschnauben, Seufzen, Lecken und Kauen oder Gähnen mitteilen, dass es von einem aktivierten SNS Zustand in den grünen Bereich übergeht.

Beispiele aus der Praxis

Im gelben Bereich ist man, wenn man aktiv mit dem Pferd arbeitet, es mobilisiert und so trainiert, dass es sich weiterentwickelt. Wenn man es gut macht, fühlt sich das Pferd dabei in Sicherheit. Doch bereits, wenn es nicht in Takt und Balance laufen kann, ist die Grenze erreicht. Meist wird es versuchen, seinem Gewicht davonzurennen und ist dadurch hochaktiviert. Es läuft übereilt, ist am Durchgehen und zeigt auf diese Weise eine Fluchtreaktion.

Im roten Bereich kann sich ein Pferd befinden, das nur langsam dahinschleicht oder wenn das Tempo nur durch reiterliche Hilfen aufrechterhalten werden kann. Verhält es sich apathisch, zeigt es ebenfalls eine defensive Verteidigungsreaktion. Treten andauernde Lahmheiten ohne medizinischen Befund auf, sollte man sich fragen, ob diese Immobilität möglicherweise eine Reaktion des Nervensystems ist. Auch die Trageerschöpfung kann, neben muskulären und anatomischen Ursachen, eine Folge davon sein, dass sich das Pferd zu lange im gelben Bereich der Aktivierung befand und das Nervensystem nun mit Immobilität reagiert. Und das Dehnen im Vorwärts-Abwärts kann ein Moment im roten Bereich sein - zur Entspannung und Regeneration, aber niemals eine aktive Reitweise oder Trainingshaltung. Es widerspricht sich einfach.

Komplett im roten Bereich ist das stoische Pferd, das wie festbetoniert vor dem Pferdehänger steht. Nun helfen weder gutes Zureden noch Gerten oder Besen. Es steht da wie festgefroren, hat irgendwie abgeschaltet und lässt keinerlei äußere Reize mehr an sich heran. In diese Kategorie fallen auch Pferde, die mit erlernter Hilflosigkeit reagieren oder durch sogenanntes Dominanz-Training gebrochen wurden.

Dass Pauschalmethoden dann manchmal ein wenig helfen können, ist oberflächlich. Man könnte ein über-aktiviertes Pferd in die Dehnungshaltung und damit in eine kurzfristige, äußerliche Entspannung zwingen. Ebenso könnte man ein immobiles Pferd durch Herumscheuchen zu einer kurzfristigen, oberflächlichen Bewegung drillen. Damit setzt man die Energie frei, die sozusagen im Nervensystem feststeckt, doch es wird sich nicht nachhaltig verändern. Die Gefahr besteht darin, dass diese schablonenhaften Methoden in einen endlosen Teufelskreis münden und man permanent die selbe Szene reinszeniert. Die Kunst der Problempferde-Korrektur besteht darin, das Pferd überhaupt wieder in den grünen Bereich zu bekommen. Im normalen Pferdealltag bedeutet die Polyvagal-Theorie, das Pferd in der Arbeit so weit zu aktivieren, dass es zwischen grünem und gelbem Bereich pendelt ohne Verteidigungsreaktionen zu zeigen. Die individuelle Grenze des Pferdes zwischen Sicherheit und Gefahr ist ebenso seine Grenze für Druck, Stress und Belastbarkeit.

Doris Semmelmann
Magazin Piaffe 2/2020

Workshop: Nerven behalten für Pferd und Reiter mit Manuel Jorge de Oliveira und Doris Semmelmann bald als Aufzeichnung auf Oliveira Stables TV