
Haben Sie schon einmal versucht ein Pferd beiseite zu schieben? Am Putzplatz, beim Hufschmied oder auch nur, wenn es irgendwo im Weg steht? Vermutlich hat es nicht funktioniert. Vermutlich hat sich das Pferd mit viel Kraft dem Druck entgegengestellt. Es hat seinen Schwerpunkt verlagert und keinen Millimeter nachgegeben. „Druck erzeugt eben Gegendruck“ sagt man sich dann.
Dieses Phänomen kann uns die Evolution wunderbar erklären. Zu Urzeiten, als die Pferde noch in der freien Wildbahn lebten, waren Raubtiere ihre Fressfeinde. Deren Angriff zielte gewöhnlich auf die weiche Stelle des Pferdekörpers ab, zwischen Rippen und Hüfte. Dort können sich Raubtierzähne bestens verbeißen und großen Schaden anrichten. Würde das Pferd nun also weichen und wegrennen, nachdem das Raubtier zugebissen hat, bräuchte dieses nur festhalten, denn durch sein Weglaufen würde das Pferd selbst dazu beitragen, dass die dünnen Gewebeschichten dieser Körperpartie reißen und es hätte ein Loch in der Bauchwand. Damit wäre das Pferd in der Wildnis so gut wie tot. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Pferd überlebt ist viel größer, wenn es sich dem zubeißenden Raubtier abrupt entgegenwirft und dann mit allen Mitteln kämpft. In diesem Moment wird das Raubtier seine Zähne auseinandernehmen und das Pferd hätte schlimmstenfalls eine Bisswunde – aber dadurch kein klaffendes Loch. Über Jahrmillionen haben eben die Tiere überlebt, die gegendrücken, währenddessen die ausgestorben sind, die dem Druck nachgegeben haben oder davongelaufen sind. Und dieses Wissen sitzt als Instinkt noch immer in ihren Köpfen, Genen oder wo auch immer.
Auch im übertragenen Sinne mag es kein Mensch leiden, wenn Druck auf ihn ausgeübt wird. Dem Druck zu weichen wäre eine Möglichkeit, doch das tun wir genauso ungern wie die Pferde. Nachgeben kann man nie in seiner ganzen Größe, nie mit Begeisterung, nie motiviert – sondern vielmehr mit einem Gefühl des Unterlegen seins, Kapitulierens, Resignierens. Wir alle kennen dieses Gefühl selbst und doch fallen wir immer wieder darauf herein. „Dem musst du mal richtig Druck machen!“ geben oder bekommen wir als wohlgemeinten Ratschlag. Wir glauben „viel hilft viel“ - also durch Verstärkung von Input wie Worten, Energie, Hilfen oder Einflussnahme, auch mehr Output, also das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Kennen Sie ein Beispiel, wo das tatsächlich geklappt hat? Ohne Folgeschäden? Dann lassen Sie es mich unbedingt wissen, ich kenne nämlich keins.
Das Pferd, das in der Stallgasse im Weg steht, wird nicht eher weichen, wenn Sie mehr drücken. Auch beim Reiten oder im Training wird mehr Druck nicht zu besseren Ergebnissen führen. Im Falle der negativen Verstärkung ist es sogar grundlegend, dass der Druck sofort aufhört, wenn das Pferd nur eine Mikrobewegung in die richtige Richtung macht.
Genauso ist es im zwischenmenschlichen Bereich. Die meisten Menschen fühlen sich bei Druck absolut überfordert und in die Enge getrieben. Und dann passiert es eben, dass wir langsamer werden, wenn jemand nachdrücklich auf die Erledigung einer Aufgabe drängt. Dass wir schon aus Prinzip dagegen sind, wenn jemand auf etwas beharrt. Dass wir unverbindlicher werden, wenn jemand hartnäckig ein Ziel verfolgt oder dass wir einfach nicht nachgeben wollen, wenn der andere nicht lockerlässt. Das Druck-erzeugt-Gegendruck-Phänomen sitzt uns genauso in den Genen, wie den Pferden. Wir haben es verinnerlicht und wenden es auch subtil an, indem wir zum Beispiel einfach gestresst gucken, wenn uns jemand antreibt oder mehr aufbürdet. Gestresst gucken bedeutet nämlich noch lange nicht, dass jemand auch tatsächlich gestresst ist. So zeigt eine Studie, dass Arbeitnehmer im Alter zwischen 18 und 34 gerne einmal Stress vortäuschen, um dem Leistungsdruck standzuhalten. Andere quasseln, jammern oder werden hysterisch. „Head down and deliver“ ist ein Slogan der Knechtschaft mancher Unternehmensberatungen, die Rollkur des Business sozusagen, aber schneller bessere Ergebnisse hat dies ebensowenig hervorgebracht.
Besser oder schneller ist kein Resultat von Druck
Pferdetrainer seit jeher waren mit der Aufgabe konfrontiert das Gegendruck Phänomen zu händeln. Bereits Xenophon erklärte in seiner ersten Schrift über die Reitkunst: „Das Pferd wird den Zaum eher annehmen, wenn man ihm danach etwas Gutes angedeihen lässt. Es wird über Gräben setzen, herausspringen und, kurz, alles andere williger ausführen, wenn ihm nach der Ausführung des Befehls Lob und Ruhe zuteilwird.“ Und dieses Wissen sollte sich in unseren Führungsetagen verbreiten: Wer auf einen anderen einwirkt, muss im rechten Moment auch wieder nachlassen, um das Gewünschte zu erreichen. Lob und Ruhe sind auch für Mitarbeiter ein Motivationselement. Gute Führungskräfte achten auf perfektes Timing und nehmen den Druck sofort weg, wenn der Andere nur ansetzt das Richtige zu tun – egal ob der Andere nun ein Pferd oder ein Mensch ist.
Doris Semmelmann