Die Hummel

Manchmal wird es sehr ernst bei den Ponyhof-Workshops. So nenne ich die Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung mit Pferden als Co-Trainer, weil das Leben ja nun mal kein Ponyhof ist. Manchmal sind wir an einem Punkt, da hat ein Teilnehmer viel gearbeitet, hat sich getraut, sich eingelassen und angenommen, was die Pferde gezeigt und widergespiegelt haben. Und trotzdem, in der Reflexionsrunde macht sich ein Gefühl der Ratlosigkeit breit, es heißt „ja und?“ oder „ja, aber …“ und das Gefühl des Verstehens, die Erkenntnis oder die Klarheit wollen sich einfach nicht einstellen. Mit reden komme ich da nicht mehr weiter, das weiß ich, denn um etwas wirklich zu verinnerlichen müssen sich Herz und Verstand einig sein.

In solchen Situationen kommen mir dann manchmal andere zu Hilfe. Andere Tiere, die nicht als Co-Trainer eingeteilt oder eingeplant waren. So wie die Hummel.

Eine der Teilnehmerinnen im Workshop traut sich selbst wenig zu. Immer auf Harmonie bedacht, niemandem in ihrem Umfeld soll irgendetwas unangenehm sein, lieber steckt sie selbst zurück. Das erkennt sie auch, sieht es in der Videoanalyse, bestätigt auch das Feedback der anderen Teilnehmer. Doch alle möglichen Lösungsansätze erscheinen ihr unrealistisch, sie könnte es nicht umsetzen, weil sie es sich nicht vorstellen kann. Normalerweise verlässt sie sich auf ihre Intuition, erzählt sie, aber ein Beispiel dazu kann sie nicht erzählen, es fällt ihr keines ein. Wann hat eigentlich mal was geklappt? 

Während dieser Gesprächsrunde summt eine dicke Hummel hinter ihr am Fenster. Laut. Immer lauter, penetrant. Es stört. „Lasst sie mal raus“ sagt irgendwer. Es ist die Teilnehmerin um die es gerade geht, die auf die Bank klettert. Nicht die links oder rechts neben ihr an diesem Fenster sitzen. Nach Anweisung der Anderen nimmt sie die Gardinenstange ab, öffnet das Fenster und geleitet die Hummel sanft ins Freie.

Während ich ihr zugesehen habe, ist es mir plötzlich klar geworden. So ist es immer.
Als sie sich wieder hingesetzt hat, will sie zur Tagesordnung übergehen, aber ich unterbreche sie. „Was hast du gerade gemacht?“ frage ich. „Ich? Ähm … Nichts!? Keine Ahnung … “ Doch langsam fällt der Groschen. Bei allen. „Ich hätte mich das nicht getraut.“ sagt einer. „Ich hätte die mit einem Papier rausgescheucht.“ sagt jemand anderes. „So viel Geduld hätte ich nicht gehabt.“ fügt noch jemand hinzu. Wir helfen ihr, diesen Moment mit der Hummel im Gedächtnis zu behalten. Zu verankern, wie man, von seiner eigenen Intuition geleitet, ein klar vorgegebenes Ziel erreichen kann. Und ich bin mir sicher, dass keine Trainingsmethode, kein NLP-Anker, kein Brain-Gym und keine Wunsch-Visualisierung besser funktioniert hätten. Ich freue mich auf den Moment, wenn sie in naher Zukunft bei ihrem Chef oder ihren Kollegen etwas erreichen möchte und dabei an die Hummel denkt. Es wird klappen, da bin ich mir sicher.

Das Hummel Paradoxon erklärt ja, dass eine Hummel nach den Gesetzen der Aerodynamik nicht fliegen könne. Man sagt, die Fläche ihrer Flügel sei zu klein um ihr Gewicht zu tragen. Aber da die Hummel die Gesetze der Aerodynamik nicht kennt, fliegt sie trotzdem. Manchmal weiss man gar nicht genau was man tut und schon gar nicht wie man das macht. Wenn man darüber nachdenkt oder danach gefragt wird, kann man es nicht erklären und damit werden diese Fähigkeiten klein und unscheinbar. Kümmert man sich aber nicht um Erklärungen oder Argumente sondern vertraut darauf, dass man es kann, dann macht man es wie die Hummel. Und Vertrauen in sich selbst ist die elementare Grundlage für jedes Gelingen.

Danke, Hummel-Co-Trainerin, denke ich still, und genieße Du jetzt den restlichen Tag in Freiheit.

Beim Workshop "Das Leben ist kein Ponyhof" in Happach, Mai 2015

Foto: Caroline Hosmann, www.naturkinder.com